Eulenspiegel Nr.1 im Sommersemester 96

Nachdruck eines Artikels aus dem Frühjahr 1991 zum Thema Durchfallquoten / LA-Klausur

Gibt es etwa nur noch Idioten ?

Gedanken eines LA-Tutors zur LA-Klausur Frühjahr 1991

Jan Litsch

Revisionsdatum: Mai 1996

75,3% Gesamtdurchfallquote in einer Vordiplomsklausur - woran kann das nur liegen ?
Diese Frage habe ich mir oft gestellt, während ich die jüngste LA-Klausur umgebrochen habe. Im folgenden einige Gedanken, woran es gelegen haben könnte.
  1. Dummheit: Wie oben in der Überschrift bereits angedeutet: es haben einfach nur Hohlköpfe an der Klausur teilgenommen. Dies wäre die einfachste Erklärung, denn in der Tat handelte es sich bei der Klausur keinesfalls um eine schwierige, sondern vielmehr um eine vergleichsweise einfache, wie sich jeder Interessierte selbst an der mittlerweile in der Fachschaft erhältlichen Klausur vergewissern kann. Im Vergleich zu früheren Klausuren gab es nur weniger Standardrechenaufgaben und dafür einige ausgesprochen simple Theorieaufgaben. Doch weder diese Erklärung noch die Tatsache, da es sich um eine Nachschreiberklausur handelte, möchte ich hier gelten lassen. Deshalb einige weitere mögliche Ursachen:
  2. Falsches Lernen: Wie ich von vielen Studenten weiß, ist es mehr oder minder üblich, für die LA-Klausur nicht in Richtung auf Verständnis, sondern vielmehr in Richtung auf Rechenschemata zu lernen. Da dies in einer Klausur, die ihren Zweck erfüllt (nämlich das Verständnis des Stoffes zu prüfen), verhängnisvoll sein muß, ist jedem denkenden Wesen wohl sofort einsichtig. Aber warum begehen dann so viele diesen Fehler? Dafür muß es Gründe geben, und zwar meiner Ansicht nach folgende zwei: den Rat älterer ("erfahrener") Studenten und alte Klausuren. Zum ersten wäre zu sagen, da diese älteren Studenten sich wohl nicht dessen bewußt sind, was sie durch ihren Einfluß auf die niederen Semester an Schaden anrichten können - und da sie deshalb möglicherweise die eigentlichen Idioten sind. Zum zweiten muß man feststellen, da es einfacher ist, in einer schriftlichen Klausur Rechenaufgaben zu stellen, als solche, die das Verständnis des Stoffes prüfen, und da es in der Vergangenheit leider allzu oft passierte, daß ebendies aus Bequemlichkeit geschah. Aber eigentlich hätten die Studenten Bescheid wissen müssen, denn Dozenten und Assistenten betonen immer wieder, daß es weniger Rechenaufgaben werden sollen und da mehr Theorie geprüft werden soll. Jedoch glaubt (Wunschglaube!) man offenbar lieber den älteren Studis, wenn die einem vorlügen, daß man das doch sowieso nie wieder braucht (obwohl sie es doch eigentlich besser wissen sollten).
  3. Überlastete Tutoren: Aus meiner eigenen nun bald dreijhrigen Erfahrung als LA-Tutor muß ich hier einfach feststellen, daß ich ein Tutorium mit 36 Teilnehmern für zu groß halte für ein sinnvolles Arbeiten. Wer in so einem Tutorium (über 30 Leute pro Tutorium sind im ersten Semester -angeblich aus finanziellen Gründen- üblich) in einer der beiden hinteren Reihen sitzt, der kann eben kaum mehr etwas mitbekommen, wenn nicht in einem extremen Maße von allen Anwesenden darauf Rücksicht (d.h. insbesondere da immer nur einer im Raume spricht) genommen wird. Wie die praktische Erfahrung zeigt, ist letzteres ein nicht realisierbares Wunschdenken. Für die wünschenswerte, angestrebte, individuelle Betreuung im Tutorium halte ich eine Größe von zwölf Studenten für richtig, bei größeren Gruppen ist es kaum zu vermeiden, daß die von allen gehaßte Atmosphäre aufkommt, daß dort vorne ein Alleinunterhalter steht, und sich alle anderen nur berieseln lassen.
  4. Die Fakultät Informatik: Schon mehrfach hörte ich von Dozenten und Assistenten, daß die Fakultät Informatik mit ihrer haarsträubenden Scheineregelung für das Grundstudium den ausdrücklichen Wunsch verfolgt, daß möglichst viele Informatikstudenten in den Mathevorlesungen durchfallen sollen. Für alle, die die Regelungen nicht kennen: Jeder Infostudent braucht für sein Vordiplom vier Info-Scheine, um sich über drei Info-Vorlesungen prüfen zu lassen, und einen einzigen Mathe-Schein, um sich über vier Mathe-Vorlesungen prüfen zu lassen. Dazu paßt es beispielsweise auch ganz genau, daß in der letzten Info-Vorlesung die Mindestpunktzahl zum Bestehen des Scheines nachträglich heraufgesetzt wurde. Hier sollen die Studenten davon abgehalten werden, sich rechtzeitig vor den Klausuren mit dem zu prüfenden Mathe-Stoff zu beschäftigen. Wenn sie dann doch drei oder vier Wochen vor der Klausur anfangen, Mathe zu lernen, ist es in vielen Fällen leider -beziehungsweise aus Sicht der Fakultät Informatik erfreulicherweise- schon zu spät. Wie schön muß doch die Schadenfreude sein, wenn man den Schwarzen Peter "Durchfallquoten" an andere weiter reichen konnte?
  5. Zu leichte Scheine: Hiermit meine ich nicht, da die Mindestpunktzahlen, die für einen Schein erreicht werden müssen, zu niedrig sind, sondern daß die meisten Mathe-Scheine durch Rechenaufgaben erreicht werden können (so gab es zum Beispiel im letzten Semester ein LA-Übungsblatt mit zwei Rechenaufgaben, die dann natürlich auch prompt von fast allen bearbeitet wurden). Bereits auf den Übungsblättern sollte ein stärkeres Gewicht auf die Theorie gelegt werden als bisher, besonders auch in der Analysis.
  6. Mangelnde Motivation im Tutorium: Leider ist es nicht die Ausnahme, sondern die Regel, daß viele Studenten völlig unvorbereitet ins Tutorium kommen, von dem da vorne erwarten, da er für sie den Stoff der Vorlesung wiederholt und sie sonst irgendwie berieselt. Wenn es der Tutor dann sogar noch wagt, eine Aufgabe vorne an die Tafel zu schreiben, und die Anwesenden dazu auffordert, sich selbst daran zu versuchen, dann beträgt in einem Erstsemester-LA-Tutorium die Wahrscheinlichkeit, da nicht bloß einer, sondern gleich ganze Reihen von Studenten ein Ana-Übungsblatt herausholen und abschreiben, mindestens 50% (niedrig geschätzter Wert aus eigener Erfahrung aus drei Semestern als LA I-Tutor). Daß dann die Laune und die Motivation des Tutors, auf Fragen und Probleme aus dem Tutorium einzugehen, auf den Nullpunkt sinkt, das sollte sich bitte mal jeder klar machen. Und was schätzt Ihr, wieviel Überwindung es kostet, jemanden nicht rauszuschmeißen, der einen in dieser Situation darauf hinweist, daß man doch dafür bezahlt wird, da man ihm etwas beibringt ?
  7. Skripten: Leider wird dieses Angebot der LA-Dozenten, den Studenten das lästige Mitschreiben zu ersparen, von etwa einem Drittel aller Erstsemester mißverstanden als Aufforderung, von der Vorlesung fernzubleiben. Diese Armleuchter haben wohl noch nicht bemerkt, daß auch das schönste bedruckte Papier keine Zwischenfrage beantworten kann. Außerdem sollten sie sich des Teufelskreises bewußt sein, den sie in Gang setzen, indem sie nicht zur Vorlesung kommen: Je weniger Zuhörer in einer Vorlesung sind, desto kleiner wird der Hörsaal, in dem die Vorlesung gehalten wird, und desto weniger Leute können sich das nächste mal die Vorlesung anhören. Ganz abgesehen davon, daß man in der Vorlesung einiges mitbekommen wird, was bei einer eventuellen mündlichen Nachprüfung von erheblichem Nutzen sein wird.
  8. Zu leichte Klausuren: Hiermit meine ich insbesondere die in LA geradezu lächerlich geringe Mindestanforderung von 25% (drei von zwölf Aufgaben) für Mathematiker und 22,5% (zwei Aufgaben und ein Ansatz von insgesamt zehn Aufgaben) für Informatiker. Dies suggeriert einfachste Klausuren, und viele sind einfach nicht davon zu überzeugen, da sie auch gerade diese scheinbar lächerlichen Mindestanforderungen erst einmal erreichen müssen. Wer sich ernsthaft und gründlich auf seine LA-Klausur vorbereitet, den sollten bei richtiger Vorbereitung diese niedrigen Mindestpunktzahlen vor keine unüberwindbaren Hürden stellen - oder liegen die hohen Durchfallquoten, um noch einmal zur Überschrift zurückzukommen, doch an der Dummheit der Leute, wenn zum Beispiel eine Aufgabe im Mathematikerteil der Klausur, die eine nur geringfügige Abwandlung einer Aufgabe der letzten Klausur war, so miserabel bearbeitet wurde, daß alle 36 Teilnehmer der Mathematiker-Klausur zusammen genau 0,5 (in Worten: NULL KOMMA FÜNF) Punkte erreichten ?
    Oder wenn bei einer anderen Aufgabe (diese aus dem Teil der Klausur, den auch die Informatiker bearbeiten durften) an einer Stelle, wo der Bildraum einer Abbildung zu bestimmen war, die überwiegende Mehrheit der Klausurteilnehmer nicht das Bild, sondern den Kern ebendieser Abbildung zu bestimmen versuchten ?
Übrigens: Falls jemand nicht meiner Meinung sein sollte, da in der LA-Klausur vorrangig die Theorie abgeprüft werden sollte, so sei dieser einmal an den genauen Titel dieser Prüfung erinnert: "Grundstrukturen, lineare Algebra und analytische Geometrie" (Wo steht da etwas von Rechentechnik ?).

Falls irgendjemand mit mir über den einen oder anderen oben angeführten Punkt sprechen oder diskutieren möchte, stehe ich dazu gerne zur Verfügung, Ihr erreicht mich über die Fachschaft Mathematik, wo ich auch häufig persönlich anzutreffen bin.
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P.S.: Falls sich jemand an den fehlenden weiblichen Formen in meinem Text stören sollte, so möchte ich an dieser Stelle gleich darauf hinweisen, daß dies so beabsichtigt ist, denn nach meinem Sprachgefühl schließt eine männliche Form in Singular und Plural automatisch auch Personen weiblichen Geschlechts ein, sofern dies nicht ausdrücklich (z. B. durch den Zusatz "männlich") ausgeschlossen wird oder von einer explizit genannten Person männlichen Geschlechts die Rede ist. Fachschaft math/inf